2011/04/17

Böckenförde und PID - FAZ 14.Maerz 2011

MENSCHENWÜRDE ALS HERAUSFORDERUNG

Zu dem Artikel "Warum nicht PID?' von Ernst-Wolfgang Böckenförder, FAZ 14.März 2011, Nr.61, Feuilleton, S.27


Obwohl ich selbst kein 'Ethikspezialist' bin habe ich den Beitrag des Bundesrichters a.D. Böckenförde mit Interesse gelesen. Der Beitrag ist sehr klar geschrieben, geradezu brilliant. Im ersten Moment erscheint seine Argumentation gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) unwidersprechlich. Die Menschenwürde, auf die er sich im Kern für seine Argumentation beruft, erscheint als die zentralste Position, die uns zur Verfügung steht, um unsere Existenz als Menschen im gesellschaftlichen Dasein in grundlegenden Belangen zu rechtfertigen. Und diese Menschenwürde heftet sich an die befruchtete Zelle, aus der heraus sich der Mensch schrittweise entwickelt. Dieser Prozeß ist nach Böckenförde als eine Einheit zu sehen, die nicht willkürlich in 'lebenswerte' und 'nicht lebenswerte' Phasen aufgeteilt werden kann. Wohl aber -- und das ist auffällig -- räumt er ein, dass es zwischen dem Lebensrecht einer Mutter und dem Lebensrecht eines heranwachsenden Kindes (noch im Mutterleib) einen Konflikt geben kann, der im Grenzfall zuungunsten des Kindes im Mutterleib ausfallen kann, d.h. das Kind im Mutterleib darf getötet werden.

An dieser Stelle wären viele Fragen zu stellen -- und die bisherige Diskussion zu diesen Themen ist ja auch mehr als umfangreich -- ich möchte aber nur auf einen Punkt abheben: Menschenwürde.

In den letzten ca. 150 Jahren haben wir in den Naturwissenschaften eine Menge dazugelernt, was das 'Wesen' des biologischen Lebens auf unserer Erde betrifft. So haben wir gelernt, dass die Betrachtung des einzelnen Individuums ohne Einbeziehung der Leben ermöglichenden Population praktisch sinnlos ist. Aber selbst die Population der Menschen für sich genommen ist auch weder verstehbar noch lebensfähig ohne die Vielfalt aller Arten, die zusammengenommen ein komplexes System ergeben, in dem die einzelnen Arten quasi 'voneinander' leben. Ohne die Vielfal der verschiedenen Bakterien, Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere, die kontinuierlich unsere Lebensbasis herstellen, würden wir als Menschen sofort von der Bildfläche verschwinden. Dazu kommt, dass sich die genetischen Grundlagen des Lebens im Laufe von mehr als 3 Milliarden Jahren kontinuierlich verändert haben. Irgendeine der vielen genetischen Strukturen aus dieser Geschichte heraus zugreifen und als 'die' genetische Struktur zu erklären, 'die' das 'Leben schlechthin' repräsentiere, wäre vor diesem Hintergrund unsinnig, geradezu absurd. Wir heutigen Menschen sind genuiner Teil dieser Prozesse, sind daraus hervorgegangen. Zu unterschiedlichen Zeiten waren unsere genetischen Strukturen anders als heute. Und -- und das ist ein entscheidender Punkt! -- dieser Prozeß der 'Lebenswerdung' auf dieser Erde ist ja keinesfalls zu Ende. Unsere Gegenwart heute ist genauso ein 'Durchgangspunkt' wie es die vielen Zeitpunkte vor unserer Gegenwart waren. Sich hinzustellen und zu sagen, dass der aktuelle Zustand des Menschen ein 'absoluter' Zustand sei, 'unveränderlich', 'unantastbar', wird dem tatsächlichen Geschehen nicht gerecht. Wie alle unsere 'Vorläufer' sind auch wir 'in Phase', 'in Entwicklung'.

Wenn es einen 'ethisch relevanten Referenzpunkt' gibt, dann den, dass es einen übergreifenden Lebensprozeß gibt, der sich seit über 3 Milliarden Jahren auf dieser Erde behauptet hat, innerhalb dessen wir Menschen, als genuiner Teil dieses Prozesses, die Fähigkeit erlangt haben, den Prozeß der genetischen Entwicklung durch die ca. 100.000 Jahren verfügbare Intelligenz und die seit ca. 6.000 Jahren verfügbaren Sprachen und die seit 10 Jahren verfügbare -- allerdings noch recht primitiven -- Technologie der Gentechnik gezielt zu beschleunigen. Wenn man dann weiter weiß, dass das uns bekannte Leben auf seinem mühsamen Weg durch die Jahrmilliarden viele Arten 'verloren' hat (manche Schätzungen sprechen zu bestimmten Zeiten von 70 - 90% aller Arten), da deren genetische Struktur mit der sich stark wandelnden Umgebung nicht Schritt halten konnte, dann kann der Verbot von genetischen Änderungen wie Hohn klingen: wir selbst existieren nur weil ungeheuerlich viele Arten auf dem Weg in die Zukunft sterben mußten, und wir verbieten den Umgang mit genetischen Änderungen weil einzelne Zellen eliminiert werden, der Struckturen nachweisbar zu Krankheiten und Beeinträchtigungen bei einzelnen führen.

Gewiss, der Mißbrauch von Genetik als fehlgeleitete Eugenik steht als Gefahr im Raum. Aber dann sollten wir ehrlicherweise auch sagen, daß wir jeden Tag weltweit erleben, daß in vielen Ländern dieser Erde permanent Menschen Macht missbrauchen und vielen hundert Millionen Menschen deren Würde nehmen, sie quälen und töten, sie missbrauchen, foltern usw. Der Mißbrauch der Freiheit ist eine Realität. Aber der mögliche und tatsächliche Mißbrauch von Freiheit darf uns nicht daran hindern, die übergreifende Bestimmung des Menschen als Teil eines planetarischen Lebensauftrages zu übersehen. Und dieser Lebensauftrag sagt ganz klar, dass wir noch keinesfalls am 'Ziel' sind, sondern dass wir 'unterwegs' sind und dass es in unserer aller Verantwortung liegt, die Chancen des Lebens für die Zukunft deutlich zu erhöhen; aktuell sind wir keinesfalls zukunftsfähig. Und da niemand von uns in vollem Umfang die kommenden Aufgaben vollständig kennt und auch nicht kennen kann, ist auch klar, dass es ohne Risiken nicht gehen kann.

Vor diesem Hintergrund erscheint mir der Versuch, Risiken unter Berufung auf eine falsch verstandene Menschenwürde auszublenden, als das möglicherweise größere Risiko. Damit blenden wir unsere Verantwortung für ein zukunftsfähiges Leben systematisch aus. Die Brillianz der Argumentation von Böckenförde dient dann der Immunisierung der Diskussion, dient der Festschreibung eines Status quo, der per se gar kein Status quo ist.

Möglicherweise werden jetzt viele sagen, ja und, was sollen wir denn dann tun? Sicher ist eines: Die notwendigen Antworten wird man nicht im 'Schaukelstuhl der politischen Korrektheit' finden; ganz sicher nicht.

Schöneck, 14.März 2011

No comments:

Post a Comment