2010/03/24

Grüner Bildungskongress 21.Maerz 2010

BILDUNGSKONGRESS

Am Sonntag, den 21.März 2010, habe ich erstmalig an einer parteipolitischen Veranstaltung teilgenommen (...es gibt das Wort vom 'Spätentwickler'), nämlich dem Bildungskongress der Grünen in Gelsenkirchen (URL: www.gruene.de/einzelansicht/artikel/gruener-bildungskongress-in-gelsenkirchen.html). Gleich vorweg, was es nicht war, es war kein wissenschaftlicher Kongress, aber es war auch keine Wahlkampfveranstaltung. Letzteres hätte nahe gelegen, da in NRW ja gerade die heiße Phase des Landeswahlkampfes angebrochen ist und die Spitzenkandidatin der Grünen, Sylvia Löhrmann, den Bildungskongress leitete (ich fand: sehr souverän). Wenngleich die Nähe zum Wahlkampf in den verschiedenen Beiträgen und Kommentaren natürlich hier und da kurz aufblitzte, ging es doch --erfreulicherweise-- primär und vor allem um die Sache: Bildung in Deutschland.

PRAXIS IM VORDERGRUND

Die Bühne wurde fast ausschließlich beherrscht von 'Praktikern', Menschen unterschiedlichster Couleur, die direkt mit Bildung --Kindergarten, diversen Schultypen, Lehrerausbildung...-- zu tun haben, und dies nicht erst seit gestern. Dies war absolut wohltuend und aufschlussreich. Wenn man auch bei einzelnen, wie z.B. dem geradezu charismatischen Keynote Speaker Peter Fratton (Pädagoge und Schulgründer aus der Schweiz), bisweilen ein bisschen wissenschaftliche Reflexion hinzufügen möchte, so waren diese erfahrungsbasierten Beiträge aber 'Gold' wert verglichen mit so vielen praxisfremden Verordnungen und Gesetzen, mit denen die Schulbürokratie allenthalben das Bildungssystem eher dämpft als belebt.

SCHULSYSTEME UND KINDERGARTEN

Bis auf einen Arbeitskreis am Nachmittag kamen die Hochschulen bei diesem Bildungskongress nicht vor. Als Mitglied einer Hochschule empfand ich das zwar als ein wenig 'dünn', aber ich konnte eine Menge lernen über die Probleme und Perspektiven der anderen Bereich. Neben vielen sehr erfolgreichen Beispielen neuer Lösungsansätze im Schulbereich kamen aber überall die noch immer bestehenden großen Probleme klar zur Sprache. Das deutsche Bildungssystem als eine Art 'Kastensystem', mit dem es nicht nur den internationalen Vorgaben der UNESCO direkt widerspricht, sondern im internationalen Vergleich sehr schlecht abschneidet, die noch immer viel zu geringe Unterstützung der Kinder in schwachen sozialen Milieus oder in migrationsgeprägten Kontexten, ganz zu schweigen von der mangelnden Unterstützung berufstätiger Frauen (und Männer!). Trotz aller Sonntagsreden der Politiker ist Deutschland hier noch immer ganz schlecht aufgestellt, obgleich jeder doch bekennt, unser einziger Rohstoff sei die Bildung. Erschreckender ist auch die Tatsache, dass zwar nach mehr und besserer Bildung gerufen wird, zugleich aber die Lehrerausbildung regelrecht demontiert und verschlechtert wird (zumindest nach Aussagen von Professoren, die seit Jahrzehnten in der Lehrerausbildung tätig sind).

AK HOCHSCHULE - Mehr Kritik als Visionen

Der einzige Arbeitskreis zu den Hochschulen war erfreulicherweise von vielen jungen Menschen --überwiegend Studierenden-- besucht. Sein Initiator, der Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen für Jugend, Generationen und Hochschulfragen, Kai Gehring, wirkte sehr offen und sachlich. Anregend war auch der Impulsreferent Prof. Dobischat (Präsident des deutschen Studentenwerkes), der seit Jahrzehnten in der Hochschulpolitik aktiv ist. Natürlich wurden die bekannten Mängel des Bologna-Prozesses thematisiert ('zu viel Stoff in zu wenig Zeit', 'Inkompatibilitäten zwischen den nationalen Systemen') oder unsinnige Studiersituation wie z.B. 'ein Prof für 1000 Studierende'. Wichtig waren aber auch Signale, die deutlich machten, dass die Hochschule als Ort der weiteren Einübung in die Demokratie massiv weiter demontiert wird: z.B. allenthalben weitere Schwächung bzw. Abschaffung von demokratischen Strukturen, keine Anerkennung des z.T. sehr hohen ehrenamtlichen Engagements von Studierenden in den Hochschulen (d.h. demokratisches Engagement wird geradezu bestraft!). Entsprechend auch die in den Bundesländern zu beobachtende Tendenz, unter dem irreführenden Titel 'mehr Freiheit für die Hochschulen' die 'Entmachtung' der demokratischen Selbstverwaltungsorgane voranzutreiben und stattdessen den Hochschulrat zu stärken, der von 'außen' besetzt wird mit hochschulfremden Personen, die dann --salopp formuliert-- den 'Experten' in den Hochschulen sagen, was sie zu tun haben (übertragen wäre das das Gleiche, als wenn man z.B. der CDU verordnen würde, dass Politiker von den Grünen und der SPD künftig als ein 'Rat' fungieren, der die wichtigen Grundlagenentscheidungen für die CDU einfach festsetzt; geradezu absurd. Das aber ist aktuelle Bildungspolitik).


PROFESSOREN

Ein Punkt, der in der bisherigen Diskussion über die Hochschulen weitgehend ausfällt, aber von zentraler Bedeutung sein dürfte, ist die Tatsache, dass man zwar --erfreulicherweise-- ein wenig mehr die Nöte der Studierenden ernst nimmt. Was aber übersehen wird ist, dass die Professoren letztlich im gleichen Boot sitzen: sie werden über die Jahre beständig mit mehr Aufgaben belastet und statt dass man die unterstützenden Infrastrukturen verbessert, werden diese eher geschwächt (was nützt es, wenn einerseits Exzellenzinitiativen neu vergeben werden, woanders aber dafür mehr Geld abgezogen wird; was nützt es, mehr Engagement über Drittmittel zu erzwingen, gleichzeitig aber die Rahmenbedingungen für den Drittmittelerwerb so knapp zu halten, dass max. 6-9% der Forschungsaktivitäten überhaupt nur zur Förderung zugelassen werden, dazu noch einen Deckel für jede Hochschule, egal wie groß oder klein), usw. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Typisch auch: während man jetzt über 'Mängel' bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses spricht, vergisst man zu erwähnen, dass die gleichen Professoren, die das 'alte' System über mehrere Jahre weiterführen mussten (das man es ja nicht einfach auslaufen lassen konnte) ohne zusätzlichen Mittel und mit nicht mehr Zeit das komplette neue System parallel (!) zur alten Arbeit ausarbeiten und einführen mussten. Rein rechnerisch war das eigentlich unmöglich. Aber die Professoren haben dies weitgehend sehr gut geschafft. Davon hört man nicht viel, geradezu nichts...

Also, Resümee, ich bin positiv angeregt und motiviert wieder nach Hause gefahren.

2010/03/11

Geist nur Chemie?

Ich wurde aufgrund meines Posts zum 'Himmel der Ratte...' einige Male darauf hin angesprochen, dass die 'Reduktion' von 'Geist' auf 'Chemie' doch wohl ein bischen zu kurz greife. Eine angemessene Antwort auf diese Einwände an dieser Stelle wäre zu lang. Ich kann da nur auf meinen Wissenschafts- und Philosophie-Blog http://cognitiveagent.org/ verweisen. Dort versuche ich zu erklären, dass die Rückführung unserer geistigen Leistungen auf materielle Prozesse nicht notwendig ein 'Absturz' sein muß, im Gegenteil. Wenn man sich erst einmal von dem tradierten Kategoriensystem im Kopf gelöst hat, dann kann man grundlegende Zusammenhänge 'neu' sehen und bewerten, und das, was dann kommt ist nach meiner Einschätzung viel faszinierender und gewaltiger als die klassischen --seltsam aseptischen-- Vorstellungen von 'Geist', die bislang die Bücher der Philosophen (und Theologen) füllen. Möglicherweise fangen wir gerade erst an, zu verstehen, wer 'wir wirklich' sind, und das ist mehr als atemberaubend....

2010/03/07

DER HIMMEL DER RATTE ODER DER HIMMEL DES ...?

MISSBRAUCHSFÄLLE ZUM ERSTEN

Als die ersten Meldungen von Missbrauchsfällen von Schülern am katholischen Canisiuskolleg (Berlin) durch die Medien gereicht wurden, hatten viele schnell das gerne bemühte Klischee vom Zölibat parat: weil Geistliche diese 'unnatürliche' Verhaltensweise gewählt haben führe dies zu häufigeren Entartungen der Person, u.a. zum Missbrauch von anvertrauten Kindern und Schülern. Durch die Öffentlichkeitsoffensive der verantwortlichen Jesuitenoberen Mertes und Dartmann angestossen kam es aber dann Woche um Woche, sogar dann Tag um Tag, zum Bekanntwerden von immer mehr Missbrauchsfällen an Schulen, insbesondere Internaten. Waren es zunächst vorwiegend katholische Einrichtungen in Süddeutschland wurden dann Fälle auch in 'weltlichen' Internaten bekannt, und zwar in Formen, die --sollten sie weitere Bestätigung finden-- von wirklich schwerwigenster Art waren.


MISSBRAUCHSFÄLLE ZUM ZWEITEN

Schon diese zunehmende Ausweitung der Fälle von Kindesmissbrauch, auch über den Bereich kirchlicher Einrichtungen hinaus, kann darauf aufmerksam machen, dass das Phänomen Missbrauch von Kindern (und Jugendlichen) möglicherweise nicht an die Verhaltensweise 'zölibatäre Lebensweise' gebunden sein muss bzw. mit dieser Verhaltensweise möglicherweise gar nichts zu tun hat. Und in der Tat, blickt man zurück auf die Meldungen der letzten Jahre, dann zeigt sich, dass das Thema Kinderpornographie ein globales Phänomen ist, das alle Berufsschichten zu durchziehen scheint und natürlich auch Menschen umfasst, die nicht zölibatär leben (Laut hessischem Justizministerium betrafen von 54 offiziell verfolgten Fällen seit dem Jahr 2000 16 der 54 Fälle Priestern oder Pfarrer; der Rest verteilte sich auf Lehrer, Kindergärtner oder Mitarbeiter von Vereinen (FAZ 20.3.2010 S.37)). In den letzten Wochen gab es ausserdem im Umfeld der öffentlichen Diskussion zum Zusammenhang von Zölibat und Pädophilie mehrere Stellungnahmen von Experten aus dem medizinischen und therapeutischen Umfeld, die darin überein kamen, dass die Pädophilie eine Verhaltensstruktur sei, die meist sehr früh in der Kindheit erworben werde und die sich massiv in die Persönlichkeitsstruktur eingräbt. Eine Heilung sei später meist nicht möglich, nur eine Art Verbesserung im 'Umgang' mit ihr. Das Zölibat hingegen ist eine Verhaltensweise, die erwachsene Männer (und Frauen) irgendwann in ihrem Leben frei wählen können, um damit ihrem Verhältnis zum Leben an einem konkreten Punkt einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Dass der Beruf des Geistlichen von Pädophilen immer wieder für ihre Zwecke instrumentalisiert wird ist nicht neu und war schon oft (insbesondere durch die häufigen Fälle in den USA) angeprangert worden. Dies gilt allerdings auch für alle anderen Berufe --oder Tätigkeiten-- bei denen Männer mit Kindern 'rein beruflich' zusammenkommen (Lehrer, Trainer, Berater, Pfleger,Therapeuten, Ärzte, ...). Was den Fall der Instrumentalisierung von Berufen für die Zwecke der Pädophilie so verheerend macht ist allerdings, dass hier, in einem absoluten Vertrauensbereich, das Vertrauen von Kindern in einer 'schändlich' zu nennenden Weise missbraucht wird. Zugleich, neben den oft großen psychischen Schäden auf Seiten der Kinder, wird damit das Vertrauen in eine wichtige gesellschaftliche Institution tiefgreifend und nachhaltig korrumpiert. Dass die offiziellen Vertreter dieser Institutionen bislang mit diesen Vorgängen eher so umgegangen sind, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, dass diese Institutionen Menschen, die solches tun, letztlich 'deckt', sie sogar weiter arbeiten läßt, nur an anderen geograpischen Orten, erscheint bei dem heutigen Kenntnisstand als sehr fragwürdig und kann letztlich selbstzerstörerisch sein. Welcher (junge) Mann will dann noch Geistlicher werden, wenn der Beruf des Geistlichen in der Öffentlichkeit als potentieller Kinderschänder stigmatisiert wird? Welche Eltern wollen ihre Kinder noch in Internate schicken, wenn Sie befürchten müssen, dass ihren Kindern dort solches angetan wird?


BEDÜRFNISSTRUKTUREN

Die Pädophilie wird von den Experten als 'Krankheit' eingestuft. Sie steht im Zusammenhang mit der menschlichen Bedürfnisstruktur, die uns allen von Natur aus vorgegeben ist. Von der modernen Medizin, insbesondere der Neuropsychologie, lernen wir immer mehr, wie die Grundbedürfnisse und Grundemotionen in den Tiefen unserer körperlichen Struktur (insbesondere in den Gehirnstrukturen) fest verankert sind. Ohne sie wäre wir lebensunfähig. Dank ihrer werden wir von Anbeginn unseres individuellen Lebens kontinuierlich mit Erregungsmustern versorgt, die uns antreiben, die uns belohnen, die 'für uns' den permanenten Erfahrungsstrom 'bewerten', bevor wir überhaupt den ersten Gedanken gefasst haben. Und neben z.B. dem Nahrungs- Schlaf- und Neugiertrieb ist der Sexualtrieb einer der stärksten Mechanismen, der in jedem fest verdrahtet ist. Es kann also niemals darum gehen, 'keine' Bedürfnisse zu haben, sondern allemal nur um die Frage, 'wie' wir mit dieser Bedürfnisstruktur 'umgehen'. Nicht von ungefähr findet man in allen Kulturen ausführliche Regelwerke (ungeschriebene und geschriebene), die festlegen, wie man in einer bestimmten Population mit bestimmten Bedürfnissen umgehen sollte bzw. darf. Und da der Sexualtrieb --als einer der stärksten Triebe-- für die Menschen aller Zeiten schon immer eine konkreten Herausforderungen war, finden sich auch dazu zu allen Zeiten unterschiedlichste Gebräuche und Regeln. Die grei grossen Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam weisen auch solche die Sexualität betreffenden Regelwerke auf. Es ist jetzt hier nicht der Ort, diese historisch und geographisch unterschiedlichen Regelungswerke anthropologisch zu bewerten. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Menschen nicht erst seit gestern mit dem tiefsitzenden Sexualtrieb konfrontiert sind und dass es weise sein könnte, sich über den gesamten Umfang des Phänomens Gedanken zu machen.


SUCHT

Auf den ersten Blick sind die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen der menschlichen Bedürfnisstruktur und den verschiedenen meist massiven Suchtphänomenen nicht sofort erkennbar. Aber wir lernen immer mehr, dass ein 'naiver' Umgang mit der menschlichen Bedürfnisstruktur in der Regel dazu führt, dass sich die verschiedenen Bedürfnisse 'ihren Weg' suchen und sich dann soche Verhaltensweisen 'rekrutieren', die wenigstens eine der grundlegenden Bedürfnisse und Emotionen bedienen. Denn, Bedürfnisse als solche sind, solange wir leben, unser innerer Motor. Wer glaubt, dies sei nicht so, wird über kurz oder lang unausweichlich Opfer seiner eigenen Bedürfnisse werden, dann aber in 'unkontrollierter' Weise. Das kann eine Zeit lang gut gehen, in der Regel aber führt es zu Deformationen, Leiden, und eben zu einer 'Abhängigkeit' von bestimmten Befriedigungsstrategien, die dann eine Form annehmen können, die wir Sucht nennen: man verfolgt dann Verhaltensweisen, die die eigene gesellschaftliche Existenz wie auch die von anderen Menschen mehr und mehr beschädigen, nur weil man aus einer konkreten Befriedigungsstrategie punktuell eine solche 'akute lokale' Befriedigung bezieht, ohne die man nicht mehr glaubt leben zu können. Der Zugang zu anderen Formen der 'Befriedigungen' erscheint 'abgeschnitten'. Die vielfältigen Formen möglichen Lebenssinns sind verblasst, erscheinen, als ob sie sich verabschiedet haben. Die aktuelle Lust erscheint als etwas 'Konkretes', in das man sich verklammert, obwohl dieses scheinbar Konkrete etwas ganz und gar 'Flüchtiges' ist; letztlich nur ein paar chemische Moleküle, die als 'Hormone' bestimmte Nervenzellen steuern, deren Erregung wir dann als 'Lust', als 'Positiv' empfinden. Damit hat letztlich die 'Chemie' den 'Geist' im Griff und verhindert, dass er seine spezifischen Möglichkeiten entfaltet. Nicht für eine 'Hand voll Dollar', sondern für ein paar chemische Moleküle wird hier eine komplexe menschliche Existenz an die Wand gefahren.


HIMMEL DER RATTE

Schon vor vielen Jahrzehnten hatten Psychologen und Biologen mit Ratten (und dann auch mit anderen Tieren) Experimente durchgeführt, bei denen sie den Ratten Elektroden in das Gehirn eingesetzt hatten, die genau jene Neuronen reizen konnten, die für die 'Lustempfindung' zuständig waren. Zugleich haben sie in die Käfige einen Schalter eingebaut, den die Ratten betätigen konnten. Immer wenn sie den Schalter gedrückt hielten, wurden die 'Lust-Neuronen' gereizt. Die Ergebnisse waren eindeutig. Alle Ratten hörten nicht mehr auf diesen Schalter zu drücken. Gefangen in den elementaren Kreislauf des körpereigenen Belohnungssystems wurde keine Nahrung mehr aufgenommen, nicht mehr getrunken, und keine sonstien Aktivitäten, solange bis die Tiere starben. Die Ratten (und auch die anderen Tiere) waren nicht in der Lage, den Einfluss dieser konkreten Form der Lust in irgendeiner Weise zu durchbrechen und zu anderen Verhaltensweisen zurück zu finden. Das körpereigene 'Lustprinzip', das im Laufe der Evolution die Aufgabe hatte, die Lebewesen so zu 'Steuern', dass Sie genau jene Handlungen ausführten, die zur Erhaltung des einzelnen Individuums wie der Population beitrugen, kann durch Umgehung wichtiger Kontrolleinheiten zur 'totalen Destruktionseinheit' werden. Da wir Menschen mit den Säugetieren die basalen Strukturen von Bedürfnissen und Emotionen teilen, sind wir potentiell gegenüber diesen grundlegenden Kreisläufen nicht immun. Im Falle des Sexualtriebs wissen wir, dass Menschen sich zwar normalerweise keine Elektroden selbst einpflanzen können, sie können sich aber aufgrund ihrer allgemeinen Intelligenz so mit geeigneten Stimulus-Material 'versorgen', dass sie auch ohne eingepflanzte Elektroden den Sexualtrieb 'rund-um-die-Uhr'so aktiv halten können, dass Sie quasi kontinuierlich in den spezifischen Erregungs- bzw. Lustzuständen teilhaben können. Das Gleiche gilt für andere Formen der Befriedigung. M.a.W. wir Menschen sind in der Lage, aufgrund unserer komplexeren Fähigkeiten die elementaren Befriedigungsmechanismen künstlich in eine Dauererregung zu versetzen. Im Endeffekt führt dies zu ähnlichen Effekten wie bei der sich selbst stimulierenden Ratte: gefangen in primären Lustzuständen verblassen immer mehr alle anderen Lebenszusammenhänge und sehr oft fehlt es den einzelnen an hinreichender psychischer Energie, daraus auszubrechen. Die grosse Verbreitung von Suchtphänomenen und ihre erheblichen gesellschaftlichen Gesamtkosten sprechen eine deutliche Sprache.


JENSEITS IM DIESSEITS

Es stellt sich hier die interessante Frage, ob Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren (z.B. zur Ratte) im Prinzip noch über 'andere' Befriedigungsstrukturen und Verhaltensstrategien verfügen können als nur über diese durch primäre Belohnungszentren gesteurte Verhaltensweisen. Die Tatsache, dass der Mensch im Rahmen der evolutionär erscheinen Entwicklung der biologischen Lebensform Gehirnstrukturen, Verhaltensweisen und Verhaltensartefakte ausbilden konnte, die weit, sehr weit über das hinausreichen, was man an den anderen Säugetieren beobachten kann, bietet mindestens eine Denkherausforderung: Wozu dieser immense Aufwand, wenn es letztlich nur um ein paar primitive Befriedungsregelkreise gehen sollte. Und in der Tat spricht alles dafür, dass der Mensch mit seinem komplexen Organismus ein Erlebens-Entscheidungs-Handlungsniveau erreicht hat, das qualitativ mehr Erlebens- und Befriedigungszustände zuläßt, als nur das Paradigma des 'Ratten-Himmels'. Allerdings --und hier liegt eine deutliche Schwachstelle der heutigen Kulturen im Umgang mit sich selbst-- wird der potentiell destruktive Charakter der basalen Befriedigungsregelkreise tendenziell eher 'verniedlicht' und der potentiell konstruktive --wenn nicht gar 'revolutionäre'-- Charakter der komplexen Regelkreise tendenziell eher stark unterschätzt. Die Alternative zur Verniedlichung der basalen Befriedigungsregelkreise heisst jetzt nicht 'Verteufelung', wie es in der Vergangenheit oft geschehen ist(speziell auch im Fall der Sexualität), sondern nüchtern-kritischer Umgang, der das 'Angenehme' daran nutzt, den Missbrauch klar benennt, aber den Hauptakzent auf das Erkennen und Nutzen der komplexeren Regelkreise setzt. Zu all dem müssten die bisherigen Wertesysteme (auch die der Offenbarungsreligionen) deutlich 'optimiert' werden. Den 'tieferen' bzw. 'höheren' Sinn gewinnt solch eine Umorientierung auch dadurch, dass die 'Erschliessung von komplexeren Belohungsstrukturen' damit zu tun hat, dass der vielbeschworene 'Himmel' sehr wohl 'im Diesseits' 'beginnt', nicht als bloße abstrakte 'Idee', sondern als 'konkret erfahrbare Realität', die sich nicht in speziellen chemischen Hormonen erschöpft, sondern jenseits der 'Chemolust' eine 'umfassendere Befriedigung' verschaffen kann.

PS: Die Unterscheidung zwischen den --wie auch immer gearteten-- körperinternen 'Bedürfnisanzeigen' einerseits und den unterschiedlichen Belohnungssystemen andererseits (Dopamin, Prolactin, Oxycatin, usw.) muss noch ein bischen klarer herausgearbeitet werden.

2010/03/02

Die Zehntausend Gesichter eines Tages

Ich versuche, wenn es irgendwie geht, täglich wenigstens eine Zeitung zu lesen. Dabei öffnen sich jedesmal so viele neue Wissens-Fenster, dass sich neben der Begeisterung über das 'Neue' die Frage stellt, was man mit all diesen Informationen anfangen kann. Beispiel: Am Montag, den 1.März 2010 wurde ich mit folgenden Beiträgen in einer Zeitung konfrontiert (Auswahl!): (1) Der Unternehmer Max Essl spricht über seine Firma die Baumax AG; ein ungewöhnlicher Typ mit ungewöhnlichen Methoden, um seine Firma und (!) seine Mitarbeiter zum Erfolg zu führen. (2) Anläßlich des Berichtes The State of Food and Agriculture der FAO reflektiert ein Tobias Piller über die Frage, ob weniger Fleischverzehr in Deutschland das Nahrungsangebot insgesamt erhöhen würde (weil Fleisch bekanntlich weniger Eiweis liefert als zu seiner Erzeugung notwendig ist). Eine wissenschaftliche Betrachtung der komplexen Zusammenhänge macht deutlich, dass unser Fleichverzicht nicht auf jeden Fall zu einer Verbesserung der Situation führen würde; dafür sind die Wechselbeziehung in unserer Welt mittlerweile zu komplex. (3) Daneben Berichte von Josef Oehrlein über aktuelle Sturmtiefs (Xynthia) mit ihren Verwüstungen über Europa und das verheerende Erbeben (8.8 auf der Richterskala) in Chile. Chile liegt auf der südamerkanischen Platte, die an der Küste von Chile auf eine andere Platte trifft. Beide bewegen sich mit 8 cm pro Jahr aufeinander zu, wobei die Platte, die aus dem Pazifik kommt, sich aufgrund ihres höheren spezifischen Gewichtes unter die südamerikanische Platte schiebt. Die daraus entstehenden Spannungen entladen sich alle paar Jahrzehnte mit grosser Wucht, wie jetzt 2010. (4) Zwischendrin ein langer Bericht von Martin Wittmann über das Klostergymnasium Ettal (und darin auch über die Klostergymnasien in Ottilien, Augsburg, Schäftlarn) anlässlich bekanntgewordene Missbrauchsfälle. Vieles davon liegt lange zurück und ist verglichen mit anderen Missbrauchsfällen nicht unbedingt 'schlimmer'; erschreckend jedoch, wie hier Erziehungseinrichtungen vielfach versucht haben, solche für Kinder und Jugendliche furchtbaren Vorgänge zu vertuschen. Der daraus resultierende Vertrauensverfall ist für all die vielen verheerend, die redlich und engagiert ihre Arbeit gemacht haben und nun automatisch mit unter Generalverdacht fallen. (5) In einem anderen Artikel wird von Stefan Tomik ein Schlaglicht auf die innere Situation eines grossen europäischen Providers geworfen: der enorme technische Aufwand, der hier allein wegen der Sicherheit getrieben wird; beispielhaft wird anhand der vielfältigen gesetzlichen Anforderungen geschildert, was dies für solch ein Unternehmen konkret bedeutet.

Wenn man diese --und letztlich noch viele andere-- Artikel gelesen hat (an einem Tag), was sagt das über unsere Welt? Was kann man daraus lernen? Was folgt daraus für das Menschenbild? Was bedeutet dies für die Dynamik unser Zivilisation? Sind hier irgendwelche Wertesysteme erkennbar? Muss ich mein Handeln ändern? Läßt sich daraus etwas, über die Zukunft entnehmen? Man kann vielleicht ahnen, dass das, was wir Welt nennen offensichtlich ein sehr komplexes Phänomen 'hinter' all diesen bzw. 'in' all diesen Ereignissen ist, das zu erfassen ein Tag überhaupt nicht reicht. Aber wieviele Tage braucht man, um die Welt zu verstehen? Kann ein einzelner Mensch überhaupt die Welt verstehen? Können mehrere Menschen zusammen die Welt verstehen? Oder sind wir zum 'blinden', 'zufälligen' Agitieren verdammt?