2010/03/07

DER HIMMEL DER RATTE ODER DER HIMMEL DES ...?

MISSBRAUCHSFÄLLE ZUM ERSTEN

Als die ersten Meldungen von Missbrauchsfällen von Schülern am katholischen Canisiuskolleg (Berlin) durch die Medien gereicht wurden, hatten viele schnell das gerne bemühte Klischee vom Zölibat parat: weil Geistliche diese 'unnatürliche' Verhaltensweise gewählt haben führe dies zu häufigeren Entartungen der Person, u.a. zum Missbrauch von anvertrauten Kindern und Schülern. Durch die Öffentlichkeitsoffensive der verantwortlichen Jesuitenoberen Mertes und Dartmann angestossen kam es aber dann Woche um Woche, sogar dann Tag um Tag, zum Bekanntwerden von immer mehr Missbrauchsfällen an Schulen, insbesondere Internaten. Waren es zunächst vorwiegend katholische Einrichtungen in Süddeutschland wurden dann Fälle auch in 'weltlichen' Internaten bekannt, und zwar in Formen, die --sollten sie weitere Bestätigung finden-- von wirklich schwerwigenster Art waren.


MISSBRAUCHSFÄLLE ZUM ZWEITEN

Schon diese zunehmende Ausweitung der Fälle von Kindesmissbrauch, auch über den Bereich kirchlicher Einrichtungen hinaus, kann darauf aufmerksam machen, dass das Phänomen Missbrauch von Kindern (und Jugendlichen) möglicherweise nicht an die Verhaltensweise 'zölibatäre Lebensweise' gebunden sein muss bzw. mit dieser Verhaltensweise möglicherweise gar nichts zu tun hat. Und in der Tat, blickt man zurück auf die Meldungen der letzten Jahre, dann zeigt sich, dass das Thema Kinderpornographie ein globales Phänomen ist, das alle Berufsschichten zu durchziehen scheint und natürlich auch Menschen umfasst, die nicht zölibatär leben (Laut hessischem Justizministerium betrafen von 54 offiziell verfolgten Fällen seit dem Jahr 2000 16 der 54 Fälle Priestern oder Pfarrer; der Rest verteilte sich auf Lehrer, Kindergärtner oder Mitarbeiter von Vereinen (FAZ 20.3.2010 S.37)). In den letzten Wochen gab es ausserdem im Umfeld der öffentlichen Diskussion zum Zusammenhang von Zölibat und Pädophilie mehrere Stellungnahmen von Experten aus dem medizinischen und therapeutischen Umfeld, die darin überein kamen, dass die Pädophilie eine Verhaltensstruktur sei, die meist sehr früh in der Kindheit erworben werde und die sich massiv in die Persönlichkeitsstruktur eingräbt. Eine Heilung sei später meist nicht möglich, nur eine Art Verbesserung im 'Umgang' mit ihr. Das Zölibat hingegen ist eine Verhaltensweise, die erwachsene Männer (und Frauen) irgendwann in ihrem Leben frei wählen können, um damit ihrem Verhältnis zum Leben an einem konkreten Punkt einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Dass der Beruf des Geistlichen von Pädophilen immer wieder für ihre Zwecke instrumentalisiert wird ist nicht neu und war schon oft (insbesondere durch die häufigen Fälle in den USA) angeprangert worden. Dies gilt allerdings auch für alle anderen Berufe --oder Tätigkeiten-- bei denen Männer mit Kindern 'rein beruflich' zusammenkommen (Lehrer, Trainer, Berater, Pfleger,Therapeuten, Ärzte, ...). Was den Fall der Instrumentalisierung von Berufen für die Zwecke der Pädophilie so verheerend macht ist allerdings, dass hier, in einem absoluten Vertrauensbereich, das Vertrauen von Kindern in einer 'schändlich' zu nennenden Weise missbraucht wird. Zugleich, neben den oft großen psychischen Schäden auf Seiten der Kinder, wird damit das Vertrauen in eine wichtige gesellschaftliche Institution tiefgreifend und nachhaltig korrumpiert. Dass die offiziellen Vertreter dieser Institutionen bislang mit diesen Vorgängen eher so umgegangen sind, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, dass diese Institutionen Menschen, die solches tun, letztlich 'deckt', sie sogar weiter arbeiten läßt, nur an anderen geograpischen Orten, erscheint bei dem heutigen Kenntnisstand als sehr fragwürdig und kann letztlich selbstzerstörerisch sein. Welcher (junge) Mann will dann noch Geistlicher werden, wenn der Beruf des Geistlichen in der Öffentlichkeit als potentieller Kinderschänder stigmatisiert wird? Welche Eltern wollen ihre Kinder noch in Internate schicken, wenn Sie befürchten müssen, dass ihren Kindern dort solches angetan wird?


BEDÜRFNISSTRUKTUREN

Die Pädophilie wird von den Experten als 'Krankheit' eingestuft. Sie steht im Zusammenhang mit der menschlichen Bedürfnisstruktur, die uns allen von Natur aus vorgegeben ist. Von der modernen Medizin, insbesondere der Neuropsychologie, lernen wir immer mehr, wie die Grundbedürfnisse und Grundemotionen in den Tiefen unserer körperlichen Struktur (insbesondere in den Gehirnstrukturen) fest verankert sind. Ohne sie wäre wir lebensunfähig. Dank ihrer werden wir von Anbeginn unseres individuellen Lebens kontinuierlich mit Erregungsmustern versorgt, die uns antreiben, die uns belohnen, die 'für uns' den permanenten Erfahrungsstrom 'bewerten', bevor wir überhaupt den ersten Gedanken gefasst haben. Und neben z.B. dem Nahrungs- Schlaf- und Neugiertrieb ist der Sexualtrieb einer der stärksten Mechanismen, der in jedem fest verdrahtet ist. Es kann also niemals darum gehen, 'keine' Bedürfnisse zu haben, sondern allemal nur um die Frage, 'wie' wir mit dieser Bedürfnisstruktur 'umgehen'. Nicht von ungefähr findet man in allen Kulturen ausführliche Regelwerke (ungeschriebene und geschriebene), die festlegen, wie man in einer bestimmten Population mit bestimmten Bedürfnissen umgehen sollte bzw. darf. Und da der Sexualtrieb --als einer der stärksten Triebe-- für die Menschen aller Zeiten schon immer eine konkreten Herausforderungen war, finden sich auch dazu zu allen Zeiten unterschiedlichste Gebräuche und Regeln. Die grei grossen Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam weisen auch solche die Sexualität betreffenden Regelwerke auf. Es ist jetzt hier nicht der Ort, diese historisch und geographisch unterschiedlichen Regelungswerke anthropologisch zu bewerten. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Menschen nicht erst seit gestern mit dem tiefsitzenden Sexualtrieb konfrontiert sind und dass es weise sein könnte, sich über den gesamten Umfang des Phänomens Gedanken zu machen.


SUCHT

Auf den ersten Blick sind die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen der menschlichen Bedürfnisstruktur und den verschiedenen meist massiven Suchtphänomenen nicht sofort erkennbar. Aber wir lernen immer mehr, dass ein 'naiver' Umgang mit der menschlichen Bedürfnisstruktur in der Regel dazu führt, dass sich die verschiedenen Bedürfnisse 'ihren Weg' suchen und sich dann soche Verhaltensweisen 'rekrutieren', die wenigstens eine der grundlegenden Bedürfnisse und Emotionen bedienen. Denn, Bedürfnisse als solche sind, solange wir leben, unser innerer Motor. Wer glaubt, dies sei nicht so, wird über kurz oder lang unausweichlich Opfer seiner eigenen Bedürfnisse werden, dann aber in 'unkontrollierter' Weise. Das kann eine Zeit lang gut gehen, in der Regel aber führt es zu Deformationen, Leiden, und eben zu einer 'Abhängigkeit' von bestimmten Befriedigungsstrategien, die dann eine Form annehmen können, die wir Sucht nennen: man verfolgt dann Verhaltensweisen, die die eigene gesellschaftliche Existenz wie auch die von anderen Menschen mehr und mehr beschädigen, nur weil man aus einer konkreten Befriedigungsstrategie punktuell eine solche 'akute lokale' Befriedigung bezieht, ohne die man nicht mehr glaubt leben zu können. Der Zugang zu anderen Formen der 'Befriedigungen' erscheint 'abgeschnitten'. Die vielfältigen Formen möglichen Lebenssinns sind verblasst, erscheinen, als ob sie sich verabschiedet haben. Die aktuelle Lust erscheint als etwas 'Konkretes', in das man sich verklammert, obwohl dieses scheinbar Konkrete etwas ganz und gar 'Flüchtiges' ist; letztlich nur ein paar chemische Moleküle, die als 'Hormone' bestimmte Nervenzellen steuern, deren Erregung wir dann als 'Lust', als 'Positiv' empfinden. Damit hat letztlich die 'Chemie' den 'Geist' im Griff und verhindert, dass er seine spezifischen Möglichkeiten entfaltet. Nicht für eine 'Hand voll Dollar', sondern für ein paar chemische Moleküle wird hier eine komplexe menschliche Existenz an die Wand gefahren.


HIMMEL DER RATTE

Schon vor vielen Jahrzehnten hatten Psychologen und Biologen mit Ratten (und dann auch mit anderen Tieren) Experimente durchgeführt, bei denen sie den Ratten Elektroden in das Gehirn eingesetzt hatten, die genau jene Neuronen reizen konnten, die für die 'Lustempfindung' zuständig waren. Zugleich haben sie in die Käfige einen Schalter eingebaut, den die Ratten betätigen konnten. Immer wenn sie den Schalter gedrückt hielten, wurden die 'Lust-Neuronen' gereizt. Die Ergebnisse waren eindeutig. Alle Ratten hörten nicht mehr auf diesen Schalter zu drücken. Gefangen in den elementaren Kreislauf des körpereigenen Belohnungssystems wurde keine Nahrung mehr aufgenommen, nicht mehr getrunken, und keine sonstien Aktivitäten, solange bis die Tiere starben. Die Ratten (und auch die anderen Tiere) waren nicht in der Lage, den Einfluss dieser konkreten Form der Lust in irgendeiner Weise zu durchbrechen und zu anderen Verhaltensweisen zurück zu finden. Das körpereigene 'Lustprinzip', das im Laufe der Evolution die Aufgabe hatte, die Lebewesen so zu 'Steuern', dass Sie genau jene Handlungen ausführten, die zur Erhaltung des einzelnen Individuums wie der Population beitrugen, kann durch Umgehung wichtiger Kontrolleinheiten zur 'totalen Destruktionseinheit' werden. Da wir Menschen mit den Säugetieren die basalen Strukturen von Bedürfnissen und Emotionen teilen, sind wir potentiell gegenüber diesen grundlegenden Kreisläufen nicht immun. Im Falle des Sexualtriebs wissen wir, dass Menschen sich zwar normalerweise keine Elektroden selbst einpflanzen können, sie können sich aber aufgrund ihrer allgemeinen Intelligenz so mit geeigneten Stimulus-Material 'versorgen', dass sie auch ohne eingepflanzte Elektroden den Sexualtrieb 'rund-um-die-Uhr'so aktiv halten können, dass Sie quasi kontinuierlich in den spezifischen Erregungs- bzw. Lustzuständen teilhaben können. Das Gleiche gilt für andere Formen der Befriedigung. M.a.W. wir Menschen sind in der Lage, aufgrund unserer komplexeren Fähigkeiten die elementaren Befriedigungsmechanismen künstlich in eine Dauererregung zu versetzen. Im Endeffekt führt dies zu ähnlichen Effekten wie bei der sich selbst stimulierenden Ratte: gefangen in primären Lustzuständen verblassen immer mehr alle anderen Lebenszusammenhänge und sehr oft fehlt es den einzelnen an hinreichender psychischer Energie, daraus auszubrechen. Die grosse Verbreitung von Suchtphänomenen und ihre erheblichen gesellschaftlichen Gesamtkosten sprechen eine deutliche Sprache.


JENSEITS IM DIESSEITS

Es stellt sich hier die interessante Frage, ob Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren (z.B. zur Ratte) im Prinzip noch über 'andere' Befriedigungsstrukturen und Verhaltensstrategien verfügen können als nur über diese durch primäre Belohnungszentren gesteurte Verhaltensweisen. Die Tatsache, dass der Mensch im Rahmen der evolutionär erscheinen Entwicklung der biologischen Lebensform Gehirnstrukturen, Verhaltensweisen und Verhaltensartefakte ausbilden konnte, die weit, sehr weit über das hinausreichen, was man an den anderen Säugetieren beobachten kann, bietet mindestens eine Denkherausforderung: Wozu dieser immense Aufwand, wenn es letztlich nur um ein paar primitive Befriedungsregelkreise gehen sollte. Und in der Tat spricht alles dafür, dass der Mensch mit seinem komplexen Organismus ein Erlebens-Entscheidungs-Handlungsniveau erreicht hat, das qualitativ mehr Erlebens- und Befriedigungszustände zuläßt, als nur das Paradigma des 'Ratten-Himmels'. Allerdings --und hier liegt eine deutliche Schwachstelle der heutigen Kulturen im Umgang mit sich selbst-- wird der potentiell destruktive Charakter der basalen Befriedigungsregelkreise tendenziell eher 'verniedlicht' und der potentiell konstruktive --wenn nicht gar 'revolutionäre'-- Charakter der komplexen Regelkreise tendenziell eher stark unterschätzt. Die Alternative zur Verniedlichung der basalen Befriedigungsregelkreise heisst jetzt nicht 'Verteufelung', wie es in der Vergangenheit oft geschehen ist(speziell auch im Fall der Sexualität), sondern nüchtern-kritischer Umgang, der das 'Angenehme' daran nutzt, den Missbrauch klar benennt, aber den Hauptakzent auf das Erkennen und Nutzen der komplexeren Regelkreise setzt. Zu all dem müssten die bisherigen Wertesysteme (auch die der Offenbarungsreligionen) deutlich 'optimiert' werden. Den 'tieferen' bzw. 'höheren' Sinn gewinnt solch eine Umorientierung auch dadurch, dass die 'Erschliessung von komplexeren Belohungsstrukturen' damit zu tun hat, dass der vielbeschworene 'Himmel' sehr wohl 'im Diesseits' 'beginnt', nicht als bloße abstrakte 'Idee', sondern als 'konkret erfahrbare Realität', die sich nicht in speziellen chemischen Hormonen erschöpft, sondern jenseits der 'Chemolust' eine 'umfassendere Befriedigung' verschaffen kann.

PS: Die Unterscheidung zwischen den --wie auch immer gearteten-- körperinternen 'Bedürfnisanzeigen' einerseits und den unterschiedlichen Belohnungssystemen andererseits (Dopamin, Prolactin, Oxycatin, usw.) muss noch ein bischen klarer herausgearbeitet werden.

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